Quelle : http://www.zeit.de/2007/08/Martenstein
Fast jeder Mensch geht bei Rot über die Ampel, wenn weit und breit kein Auto zu sehen ist, auch ich tue dies. Nach meinem Rechtsempfinden ist die Ampel ein freundliches Angebot des Staates an mich als Fußgänger, von dem ich Gebrauch machen kann oder auch nicht. Ein Schutzangebot, das man unter allen Umständen annehmen muss, auch wenn man gar nicht möchte, heißt »Schutzgeld«, und es wird einem nicht vom Staat gemacht, sondern von der Mafia.
Ich respektiere in dieser Frage, wie es meine Art ist, auch andere Ansichten. Das heißt, wenn eine starrsinnige, unflexible und obrigkeitshörige Person an einer Ampel steht und die Straße partout nicht überqueren will, obwohl auf 500 Meter Entfernung kein Auto sich zeigt, dann gebe ich dieser Person keinen ermunternden Klaps auf den Po und halte ihr keinen Vortrag über den mündigen Bürger, die Große Französische Revolution und den Mut vor Fürstenthronen. In den letzen Jahrzehnten hat sich in Deutschland das Verhältnis zwischen den Ampelstehern und den Ampelgehern spürbar entspannt, es gibt kaum noch Zwischenfälle, während man in den sechziger Jahren als Ampelgeher von den Ampelstehern noch hin und wieder ins Arbeitslager gewünscht wurde und als Ampelgeher den Ampelstehern den Stinkefinger zeigte. An der Ampel funktioniert die multikulturelle Gesellschaft!
Wenn Kinder sich an der Ampel aufhalten, sind die Verhältnisse anders. Mit Kindern bleiben alle stehen, auch ich. Wir sind Vorbilder. Gleichzeitig spielen wir den Kindern etwas vor, wir lügen. Wir entwerfen ein falsches Bild von der deutschen Gesellschaft. Indem wir an der Ampel Vorbilder sind, verhalten wir uns, was Wahrheitsliebe und das Bekenntnis zur eigenen Meinung betrifft, gerade nicht vorbildlich. Dies ist ein philosophisches Problem. Ungeklärt ist außerdem die Frage, ab wann der kognitive und intellektuelle Apparat eines Kindes in der Lage ist, zu erkennen, ob ein Erwachsener bei Rot stehen bleibt. Wenn ich einen Kinderwagen sehe, gehe ich bei Rot. Der Säugling kann aus seinem Wagen ja nicht hinausschauen, und wenn er es könnte, würde er nichts begreifen. Bei Zweijährigen ist der Fall klar, da bleibe ich stehen, unterhalb von zwei Jahren erstreckt sich eine Grauzone. Einjährige vergessen fast alles sofort wieder, sie erkennen ja kaum ihren Vater, wenn sie ihn mal eine Woche lang nicht gesehen haben. Ein Einjähriger weiß gar nicht, was eine Ampel bedeutet. Neulich aber sah ich, hinter einen Busche verborgen, zwei Zwölfjährige, die, nachdem sie sich davon überzeugt hatten, dass kein Erwachsener in der Nähe war, bei Rot die Straße überquerten. Da wurde mir bewusst, dass es an der Ampel Parallelgesellschaften gibt und dass meine Multikulti-Idee naiv war. Wenn Erwachsene und Kinder zusammen an der Ampel sich befinden, bleiben beide stehen und spielen einander vor, dass sie die gleichen Normen haben, wenn sie aber unter sich sind, gehen beide bei Rot, sie haben also tatsächlich die gleichen Normen, wissen aber beide nicht, welche es sind.
So mache ich mir über alles meine Gedanken. Oberflächlich bin ich nämlich nicht.
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im nächsten Post sollte dann meine Erörterung folgen.
Ich erwähne vorab,dass ich nicht auch Rechtschreibfehler geachtet habe/werde,da ich es schnell abtippen werden.